FILM
08.12.2012, 18.30 Uhr, Alabama
Die deutsch-türkische Arbeitsmigration spiegelte sich bereits seit den 1970er-Jahren in der Kinokunst beider Länder wider. Von Ausnahmen abgesehen wurden Geschichten erzählt, die in Deutschland das Bild des Ausländers und in der Türkei das Klischee des Almancı (Deutsch-Türken) reproduzierten. Seit Anfang der neunziger Jahre nehmen junge deutsch-türkische Filmemacherinnen und Filmemacher eine andere Perspektive ein. Ihre Distanz gibt ihnen die Freiheit, neue Bildersprachen zu erfinden. Sie bringen in ihren Erzählungen die Stereotypen zum Tanzen und entwerfen Bilder für Migration abseits vom Opferdasein, die fast ohne Worte auskommen und von eindringlicher Symbolik zeugen.In ihrem Vortrag, der in Zusammenarbeit mit Tunçay Kulaoglu entstand, zeichnet die Filmemacherin Martina Priessner die verschiedenen Facetten dieser Entwicklung nach und zeigt Motive von Aufbruch, Unterwegssein, Ankommen und Rückkehr. Anhand zahlreicher Ausschnitte kommentiert sie Filmbilder der letzten 30 Jahre – eine historische Reise auf den Spuren des Almanci.
Deutsch-türkische Filme
KRASS präsentiert im Zusammenhang mit dem Vortrag von Martina Priessner die Filme, welche im Vortrag diskutiert werden:
ALMANYA ACI VATAN (Deutschland, bittere Heimat, Şerif Gören, 1979, OmU, 90 min)
Deutschland / Türkei 1979 / 85 Min. / OmdtU / Regie: Şerif Gören / Mit Hülya Kocyiğit, Rahmi Saltuk
Güldane ist eine junge, selbstbewusste Frau, die als „Gastarbeiterin“ aus der Türkei nach Berlin kommt. Sie lebt in einer Frauen-WG und arbeitet in einer Fabrik. Während ihres Sommerurlaubs im Dorf in der Türkei lernt sie Mahmut kennen, der davon träumt nach Deutschland zu gehen. Er bietet ihr viel Geld für eine Scheinehe an. Güldane akzeptiert das Angebot. Zurück in Deutschland will sie von Mahmut zunächst nichts wissen. Erst als sie sich wegen der penetranten Anmache eines anderen Mannes nicht mehr zu helfen weiß, lässt sie sich auf Mahmut ein – mit ungeahnten Folgen.
Bevor dem Altmeister des türkischen Kinos Serif Gören mit Yol (Der Weg, Goldene Palme Cannes 1982) der internationale Durchbruch gelang, setzte er 1978 mit „Almanya Acı Vatan“ (Deutschland, bittere Heimat), den er in Berlin und der Türkei drehte, Maßstäbe in der filmischen Erzählung der Arbeitsmigration.
Auslandstournee
D 1999 / 91 min / OF / Regie: Ayşe Polat / Mit: Hilmi Sözer, Özlem Blume, Martin Glade, Özay Fecht u. a.
Die elfjährige Şenay und der schwule Nachtclubsänger Zeki machen sich gemeinsam auf die Reise um Şenays Mutter zu suchen. Von Deutschland über Frankreich in die Türkei begleitet der Film die ungleichen Weggefährten bei ihren Abenteuern und Auseinandersetzungen mit Heimat, Exil und Fremdheit. Der Rhythmus des Films wird von den Motiven des Reisens und der Mobilität bestimmt. „Unterwegs sein kann neue Möglichkeiten der Wahrnehmung eröffnen“ (Ayşe Polat).
Kurzfilme
Anfang der 90er Jahre begannen deutsch-türkische FilmemacherInnen der zweiten und dritten Generation, ihre so noch nie erzählten Geschichten auf die Leinwand zu bringen. Die Filme „Totentraum“ und „Frizör“ (2003) von Ayhan Salar stehen beispielhaft für erste Versuche, Klischees und stereotype Vorstellungen über migrantisches Leben in Frage zu stellen.
Totentraum
D 1994 / 15 min / Regie: Ayhan Salar /16mm / BetaSP
Ein türkischer Arbeitsimigrant ist gestorben. Seine Leiche wird kontrastiert mit dem Bericht seiner Frau, die in einem Brief aus der Heimat die Situation und Erwartungen der Familie beschreibt. In einer parabelhaften Darstellung wird der Abschied des Gastarbeiters aus der Heimat geschildert, die zugleich auch seine Rückkehr als Toter sein kann.
Frizör
D 2003 / 15 min / Regie: Ayhan Salar
Der junge Türke Ahmet war 1964 vor dem Portugiesen A. Rodrigues aus dem Zug gestiegen. Auf die Frage des Empfangskomitees, ob er ein Gastarbeiter sei, antwortete Ahmet höflich mit „Ich Frizör“, aus dem Fremdsprachenführer. Der Portugiese sagte nichts und lächelte vor sich hin. So wurde A. Rodrigues zum millionsten Gastarbeiter, von Wochenschaukameras eingefangen und mit einem Motorrad belohnt.